Christoph Hein - Unterm Staub der Zeit

Lob und Verriss - Der Podcast

19-11-2023 • 7 mins

Nachdem ich im Alter von 12 Jahren meine Stadtbezirksbibliothek “ausgelesen” hatte (natürlich nicht die komplette, für mich zählte nur das utopische Regal!), stolperte ich in dem, was man in der DDR so Feuilleton nannte, über den gerade erschienenen Roman “Der fremde Freund” von Christoph Hein. Den Zeitpunkt kann ich deshalb so genau bestimmen, weil ich jetzt, in meinem fünften Lebensjahrzent, so langsam passabel Kopfrechnen kann und mir Wikipedia das Erscheinungsdatum des Romans mit 1982 angibt. Dass ich ein Buch von Christoph Hein gelesen hatte und enorm fasziniert von dessen Sprache war, hatte ich noch im Hinterkopf, aber mein fortlaufender Erinnerungshorizont von exakt sieben Jahren verwehrt mir, mich zu erinnern, worum es konkret ging. Auch hier hilft mir die Freiwilligenenzyklopädie auf die Sprünge und die Synopsis von “Der fremde Freund” lässt mir gleichzeitig die Erinnerungssynapsen knallen als auch mich kopfschüttelnd zurück: was ein wunderlicher Teenager ich gewesen sein muss!

Im Buch, geschrieben aus der Ich-Perspektive einer 30-jährigen Ärztin, geht es um Liebe und Entfremdung und um Fotografie. Die Liebe war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht untergekommen, die Entfremdung als Wort kein Begriff, aber retrospektiv und küchenpsychologisch macht das alles Sinn. Das Einzige im Buch, womit ich wirklich, und zwar richtig was am Hut hatte, war die Photographie. Und so wie die Protagonistin im Buch, Claudia, ob ihrer Entfremdung von den ihr seltsam vorkommenden Menschen nur leblosen Kram fotografiert, praktizierte ich die Kunst auch und erkannte ich mich wohl ziemlich wieder.

Wie gesagt, all das reime ich mir elektronisch unterstützt zusammen, denn das Einzige, woran ich mich wirklich erinnere, war die seltsam unprätentiöse, klare, unaufgeregte Sprache Christoph Heins, die mich in ihrer Sparsamkeit, ihrer Affektlosigkeit an Kafka erinnerte. Sicher ein bisschen zu hoch gegriffen, aber ich war ein äußerlich gestörter und innerlich begeisterbarer Teenager.

Es sollte das letzte Buch bleiben, was ich von Christoph Hein gelesen habe. Die zwei, drei noch in der DDR erschienen Werke blieben unter meinem Radar und danach gab’s Westbücher. Doch irgendetwas spülte mir kürzlich Heins jüngstes Werk in den Sichtkreis und es schloss sich ein solcher. Es heißt “Unterm Staub der Zeit” und wieder ist es ein Buch, welches mich sujettechnisch nicht wirklich interessieren sollte. Und auch hier ist es die Sprache, über die es wenig mehr zu sagen gibt, als dass sie “exakt” ist, “unaufgeregt” und “genau”, die mich, und ich weiß zum Teufel nicht warum, fasziniert.

Der Inhalt des Romans ist die Geschichte des 13-jährigen Daniel aus der Ostzone, wie er 1958 von seinem Vater ins Internat eines Westberliner Gymnasiums gebracht wird. In der DDR wurde ihm die Erweiterte Oberschule verweigert, also wurde er wie viele talentierte Teenager von seinen Eltern in den Westen geschickt, um ein Abitur zu bekommen. Das passierte so häufig, dass die Westberliner Gymnasien spezielle “C-Klassen” hatten, die den Lehrplänen in den Schulen in der Ostzone Rechnung trugen um die neuen Schüler an das Abitur heranzuführen.

Für die jüngeren Leser: 1958 ist vier Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer und so folgen wir auf den 200 Seiten im Buch Daniel zunächst bis zu diesem 13. August 1961. Die DDR versuchte schon vor dem Bau der Mauer den Strom von Unzufriedenen in die BRD zu stoppen: mit Kontrollen, Entzug von Ausweisen und dem Erteilen von Anweisungen, den Wohnort nicht zu verlassen. Und so waren die quasigeflüchteten Jugendlichen in einem seltsamen Limbo, in dem sie zwar jederzeit nach Ostberlin fahren konnten, schon weil dort mit Ostmark alles um den Faktor 5 billiger war, sie aber Gefahr liefen, geschnappt zu werden und damit ihr Abitur und ihre Zukunft zu verspielen.

Das der Erzähler im Buch, Daniel, Christoph Hein im real life ist, wird nicht explizit erwähnt, aber ich Fresse einen Besen wenn nicht. Das macht das Buch zu einem “Opa erzählt vom Krieg” eines 79-jährigen Schriftsteller. Was will man mehr? Und wenn man mehr will, dann lest euren Actionquatsch - das hier ist das wahre Leben und es wird genauso berichtet, wie man es sich von einem ernsten, guten Erzähler ohne Kapriolen wünscht. Hein berichtet Episoden aus einer Jugend in einer Zeit, die ein bisschen uninteressant sein mag. Nicht weit genug von der Gegenwart entfernt, nicht besonders aufregend, verglichen mit einem 2. Weltkrieg, der damals auch schon lang vorbei war. Über den kann man was erzählen: Gewalt, Heldentum, Befreiung! Die Ende der Fünfziger Jahre in Berlin waren sicher spannend, aber der größte Gewaltausbruch im Buch ist eine Prügelei beim BillHaley-Konzert im Sportpalast und das Heldenhafteste der Schmuggel von Musikinstrumenten aus dem Osten in den Westen for fun and profit. Und Befreiung: not so much. Im Gegenteil. Während die, ein bisschen belanglosen, Anekdoten des etwas nerdigen, theaterbegeisterten Daniel dahin plätschern, verändert sich die Weltpolitik. Dass ihr Abitur prekär ist und an ihrer Fähigkeit hängt, die poröse Grenze zwischen Ost- und Westberlin unauffällig und möglichst selten zu überqueren, wissen die Schüler. Was sie nicht ahnen ist, dass ein US-Senator im fernen Washington den Russen durch eine verhängnisvolle Rede, das Signal gibt, dass es ok sei, die sowjetische Zone von denen der westlichen Siegermächte abzuschneiden.

Die Nachricht davon erreicht Daniel in den Sommerferien, ausgerechnet in Dresden (Lob- und Verriss wird von dort ausgestrahlt, wem das nicht klar ist..) und er eilt nach Berlin zurück. Dort sieht es noch ein paar Tage lang so aus, als wäre das ein zeitweilige Maßnahme. Es gibt doch hunderte Straßen und Kilometer Grün um Westberlin, all das abzusperren erscheint unvorstellbar. Doch innerhalb von Wochen ist genau das passiert. Ein paar verständnisvolle Beamte im Ostteil, die den Schülern Hoffnung machen, ihr Abitur fortsetzen zu können, werden von Hardlinern abgelöst und zum Schulbeginn im September ‘61 ist Daniel und seinem zwei Jahre älteren Bruder, mit dem er auf dem Gymnasium war, klar, dass sie sich eine Lehre im Osten suchen müssen.

Ganz Christoph Hein erzählt er diese dramatisch und traumatisch klingenden Ereignisse mit stoischer Gelassenheit, dass man sich die Frage stellt, ob das so angebracht sei? Immerhin verändert sich durch den Mauerbau das Leben von ein paar Millionen Menschen, beispielhaft vertreten durch die zwei Teenager, grundlegend und nach allgemeinem Konsens zum Negativen. Ja, die Gespräche mit den neu eingesetzten linientreuen Kaderschmieden die dem jungen Daniel, dem “Westflüchtling”, dem “Intellektuellen” das Leben schwer machen, sind frustrierend und machen jemandem, der den Scheiß dreißig Jahre später mitgemacht hat immer noch wütend. Doch Daniel fügt sich mit der Flexibilität, die nur ein Jugendlicher hat ein. Er passt sich nicht an, Weiß Gott nicht, er ist ein paar Monate lang sogar Fluchthelfer, aber er bleibt in der DDR, aus Gründen. Er lernt Buchhändler und aus dem kleinen Daniel wird ein großer Christoph Hein. Dieser verweigert, zumindest in diesem Buch, die Bitterkeit ob eines Lebens, das er nicht gelebt hat. Ob des Faktes, dass er sie nicht spürt oder dass sie in diesem Werk keinen Platz hat, darüber nachzudenken lädt die kleine Nouvelle “Unterm Staub der Zeit” ein und, wichtiger, dazu, das Lebenswerk von Christoph Hein, jetzt wo es fast komplett ist, nochmal von vorn zu lesen.



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